Becoming Siren

Becoming Siren (September 1940 – May 1941)

Ein Interview mit Julia M. Strauß

Becoming Siren verknüpft die Kulturgeschichte der Sirenen mit der Geschichte des legendären Overalls, dem Siren Suit, der während des Zweiten Weltkriegs in England von Frauen getragen wurde. In diesen Overalls traten während des Blitzkriegs auch die Tänzer*innen der gleichnamigen Performance-Gruppe The Sirens auf. In Bunkern und Untergrundschächten entwickelten sie eine Choreografie, die den Ausnahmezustand in einen rite de passage verwandelte. So öffnet sich innerhalb der Geschichte der Raum für ein utopisches gesellschaftliches Moment, das Geschlechterpolaritäten und Klassenunterschiede auflöst.

Historische Beschreibungen zum Tarnverhalten von Tieren und Menschen, in denen sich die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt auflösen, sowie Ideen über den Cyborg der Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway werden in Aufsätzen und poetischen Reflexionen aufgegriffen. Die Anthologie springt zeitlich und inhaltlich vor und zurück; die dabei entstehenden Lücken schaffen Raum für neue Lesarten. Anhand des historischen Quellenmaterials und der rekonstruierten Szenenbilder des Tanzes wird nicht nur sichtbar, wie vielgestaltig die mythologische Sirene ist, sondern wie sie sich nach Jahrhunderten der Aneignung ihres Mythos selbst ermächtigt hat.

 

Julia M. Strauß (JMS): In deinem Text „Gimme Shelter“ zeichnest du die Geschehnisse der Londoner Kriegsjahre (1940/41) nach. Im Fokus stehen dabei die Notunterkünfte in den Metroschächten während der deutschen Luftangriffe, der Sirenenanzug und die Tanzgruppe The Sirens sowie ihre spektakulären Auftritte im Untergrund. Deine Narration verwebst du dabei mit mehreren Zeitebenen, sodass eine Art Stofflichkeit entsteht. Inwiefern würdest du deine künstlerische Praxis auch kuratorisch begreifen?

 

Alexandra Hopf (AH): Becoming Siren ist eine Ausstellung/Retrospektive in Form eines Buches, in dem es um die Rekonstruktion eines Tanzes geht. In das historische Szenario des Londoner Blitzkriegs eingebettet ist sowohl die Geschichte des Siren Suit, der sich aus dem Arbeitsanzug (den Frauen in den Fabriken trugen) entwickelte, als auch die Mythologie der Sirene, einem Mischwesen aus Tier und Mensch. Beide Narrative werden in Bildern und Texten sowohl aus den Feldern der Literatur und Popkultur als auch mit zeitgenössischen Beiträgen verwoben, wobei sich Fiktionales und Faktisches durchdringen. Die Einleitung, die den historischen Hintergrund skizziert, geht im Laufe der Geschichte in die Schilderung der legendären, im Untergrund stattfindenden Performance der Tanzgruppe The Sirens über. Die Bewegungen der Tänzer*innen werden beschrieben, als seien sie Computeranimationen, die sich während der Performance immer wieder neu zusammensetzen und dabei hybride, fragmentierte Körperbilder erzeugen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Stoff des Siren Suit, der mit dem Motiv eines gefalteten Papiers digital bedruckt und zusätzlich in helle und dunkle Segmente eingefärbt ist. Seine Faltung zieht sich durch den gesamten illusionistisch schattierten und optisch fragmentierten Anzugkörper. Diese Motive spiegeln sich auch bezüglich Form und Inhalt des Buches wider: als Mimese, Fluidität von Identitäten, Parallelität von Narrationen und Non-Linearität der Geschichte.

 

JMS: Schriftbild und Bild und Schrift sind in Becoming Siren augenscheinlich wichtige Komponenten. Wie bedingen sich Visualität und Prozess in deiner Abhandlung und wie entscheidend ist der gelenkte Blick?

 

AH: Mir war wichtig, dass Schrift und Bild gleichwertig sind, also Schrift auch als Bild betrachtet werden kann. So sind zum Beispiel Erzählungen nebeneinander platziert. Fußnoten und Bildbeschreibungen werden zu kleinen autonomen Texten, wodurch das Layout zu einer Gesamtkomposition wird. Schriften der historischen Quellentexte wurden rekonstruiert und die Bilder jeweils ausgetauscht. Für andere Textbeiträge wurde ein Schriftenprogramm verwendet, das die gewählte Serifen- in Groteskschrift und umgekehrt transformiert. Es ergeben sich auf diese Weise hybride Schriften, deren Übergänge jedoch kaum wahrnehmbar sind. Die Fotos, die den Tanz rekonstruieren, sind aus Fragmenten einer einzigen Person zusammengesetzt, die auf manchen Abbildungen sogar das ganze Ensemble verkörpert. Kein Zustand ist statisch, alles transformiert und greift ineinander über.

 

JMS: Deine historische Auseinandersetzung mit dem Sirenenanzug zeigt auf, dass das Kleidungsstück geschlechts- und klassenlos, politisch gesprochen: in Gänze demokratisch, ist. Gebrauchskleidung weist meist eine non-binäre Ästhetik auf, und auch der aktuelle Zeitgeist ist (wieder einmal) unisex bzw. genderless. Inwiefern ist die Sirenenthematik im gegenwärtigen Modediskurs von Bedeutung?

 

AH: Ich setze mich schon seit geraumer Zeit mit dem Arbeitsanzug als einem Wiedergänger der Moderne auseinander. Die Russische Avantgarde revolutionierte die Kunst. Design, Mode, Architektur und Theater partizipierten damals (bis zum Stalinismus) am politischen Diskurs. Vor ein paar Jahren weckte eine Abbildung mein Interesse, die Alexander Rodtschenko in seinem Arbeitsanzug zeigt, den ich wiederum aus grundierter Leinwand für eine Ausstellung rekonstruierte. Er gab die Initialzündung für all meine weiteren Recherchen.

Der Siren Suit wurde von Frauen entworfen, produziert und getragen. Winston Churchill hatte sich ihn damals zur gleichen Zeit angeeignet – als Zeichen der Solidarität mit der Bevölkerung. Der Anzug, in einer für ihn eigens maßgeschneiderten Nadelstreifenversion, hatte also eine klare politische Botschaft. Die Mode spiegelt das Aufbrechen traditioneller Genderzuschreibungen ja bereits seit den 1920er-Jahren wider. Neu ist, dass das, was gerade modisch ist, in den heutigen sozialen Netzwerken sekundenschnell weiter gepostet wird. Den aktuellen Zeitgeist bekommen wir trotzdem nie zu fassen, er wird sich uns immer entziehen. Daher lässt sich das Zeitgenössische des Siren Suit erst heute, aus der Distanz (zu seiner damaligen Zeit) betrachtet, festhalten.

 

JMS: Die Autorinnen Silke Ballath und Rosanna McNamara setzen sich mit dem Haraway’schen Cyborg-Konzept auseinander und bringen es mit den Sirenen in Verbindung. Wie liest du Donna Haraways Essay „A Cyborg Manifesto“ (1983) im Hinblick auf deine umfangreichen Studien?

AH: Ich lese „A Cyborg Manifesto“ durchaus auch als künstlerisches Manifest, das seiner Zeit voraus war. Haraway überwindet darin naturwissenschaftliche, gesellschafts- sowie genderpolitische Zuschreibungen und Kategorien und zeichnet die Vision einer Gesellschaft, in der die Grenzen zwischen Mensch/Tier/Organismus und Maschine immer durchlässiger werden. Der Cyborg ist eine Metapher für die Schaffung umfassender und vor allem sich zueinander in Beziehung setzender Identitäten.

In ihrem Gesang lockt die Sirene die Seeleute mit ihrem Allwissen (=Allmacht) auf die Insel. Die über Jahrhunderte auf sie und ihren Mythos projizierten männlichen (Allmachts-)Fantasien sind Spiegel ihrer Zeit. Die im Buch thematisierte Analogie zum Cyborg öffnet der Sirene endlich den Raum für neue Potenziale vor allem im Sinne ihrer Selbstermächtigung.

 

JMS: In deiner Publikation sind Texte von Carlos Dyer und Roger Caillois abgebildet. Kannst du mir mehr über deine Beschäftigung mit diesen Autoren erzählen und in welchem Zusammenhang du sie (und ihre Überlegungen) hinsichtlich deiner Arbeit siehst bzw. verstehst?

 

AH: Der Text des französischen Soziologen und Philosophen Roger Caillois „Mimikry und legendäre Psychasthenie“ erschien 1935 im surrealistischen Kunstmagazin Minotaure. Darin geht es um die Mimikry bestimmter Insekten, die sich so gut tarnen und dabei mit ihrer Umgebung verschmelzen, dass sie schliesslich aufgefressen werden. Caillois behauptet, dass es sich daher nicht um einen Nutzen der Natur handelt, sondern um einen gefährlichen Luxus. Indem aber das Insekt mit der Fähigkeit der Imagination ausgestattet ist, um Grenzen zwischen sich selbst und seiner Umwelt aufzulösen, schafft Caillois dadurch eine Analogie zum menschlichen Bewusstsein. Er eröffnet damit das Feld für eine umfassendere Beziehung zwischen Mensch/Tier und seiner Umwelt.

Carlos Dyer war Künstler und schrieb den Essay „The Role of the Artist in Camouflage“ für die britische Propagandaausstellung Britain at War im MoMA (1941). Darin werden künstlerische Techniken zur Tarnung von Personen und Objekten für Kriegszwecke beschrieben. Im Kontext der damaligen Kunstausstellung wurden Abbildungen der Unsichtbarmachung von Objekten und ihrer Umgebung zusammen mit anderen Exponaten gezeigt.
Beide Autoren betrachten den Akt der Mimese, wenn auch auf unterschiedliche Art, als künstlerische Ausdrucksform. Ich habe mir beide Texte angeeignet, indem ich ihre Abbildungen vertauscht, jedoch ihre Untertitel im Original belassen habe, sodass eine surrealistische Sinnverschiebung entsteht, ähnlich wie in den Beiträgen der Zeitschrift Minotaure.

 

JMS: Es ist nicht überliefert, wie der Gesang der Sirenen klingt, noch von welchem Inhalt ihre Darbietungen erzählen. In ihrem Beitrag „In Living Memory“ lässt Rosanna McNamara daher fiktiv eine Sirene zu Wort kommen, die eine Geschichte von Verlust und Trauer offenbart. Dabei sind ihre Worte in Liedtextzitaten von Aaliyahs „I Miss You“ eingebettet. Welche musikalische Untermalung würdest du wählen, um den Sirenen eine Stimme zu verleihen? Und: Welche Rolle spielen Tonalität und Rhythmik in der Inszenierung deiner Siren Suits?

 

AH: Ich denke eher an ein Wiegenlied (Lullaby), das die Transformation vom Wach- in den Schlafzustand einleitet, wie am Ende der Erzählung „Gimme Shelter“. Das Traumgeschehen folgt sowohl einer anderen Dramaturgie und Logik als auch einer eigenen Zeitlichkeit, die der Träumer zwar vorgibt, der er gleichzeitig aber auch ausgesetzt ist; die Tonalität findet, wie die des Traumes, in Verläufen statt. Träumer und Traum gehen wie Wellen langsam auseinander hervor und ineinander über.

Julia M. Strauß war kuratorische Assistentin an der Berlinischen Galerie.